Verdächtig gute Fotos – Hausdurchsuchung: Vom Zeugen zum Beschuldigten

Weil er ein Foto einer beschädigten Gaststätte aus seiner Nachbarschaft ­gepostet hat, wird ein Connewitzer selbst zum Tatverdächtigen und seine Wohnung durchsucht.

»Wenn frühmorgens ein Auto auf der Straße hält und eine Schiebetür aufgeht, stehe ich sofort am Fenster. Manchmal auch schon, wenn ich Dieselmotoren höre.« – Nils Bakun (Name von der Redaktion geändert) ist immer noch sichtlich aufgeregt, wenn er über die Ereignisse von Mitte Januar redet: Um sechs Uhr morgens dringen vermummte Einsatzkräfte der Polizei in seine Wohnung ein, Angehörige der Kriminalpolizei durchsuchen stundenlang seine Sachen. Der Vorwurf: Sachbeschädigung an einer Gaststätte in Connewitz. In der Presse wird ein Zusammenhang zum Verfahren gegen die Gruppe um Lina E. hergestellt. Nils Bakun sitzt in einem Zimmer seiner WG in Connewitz. Vorher hat er im Zimmer nebenan gewohnt, seit der Hausdurchsuchung betritt er es kaum noch. »Es läuft mir immer noch kalt den Rücken runter, wenn ich da reingehe.«

Die Geschichte, wie es zu der Hausdurchsuchung kam, findet Daniel Werner, der Rechtsanwalt von Bakun, »geradezu abenteuerlich«. Alles fing im Oktober 2020 an. Bei einer Gaststätte am Connewitzer Kreuz werden nachts die Scheiben eingeschmissen. Dazu wird eine übel stinkende Flüssigkeit – die Ermittler vermuten eine Mischung aus Kot und Bitumen – in den Räumlichkeiten versprüht und der Spruch »No Nazis No Sexism« an die Fassade gesprüht. Schon länger stand der Vorwurf im Raum, die Betreiber der Gaststätte hätten Geschäftsbeziehungen mit Neonazis. Ein Vorwurf, den sie selbst vor der Beschädigung der Gaststätte auf Facebook in Teilen bestätigt hatten, zusammen mit der Ankündigung, die betreffende Person aus der Betreibergesellschaft auszuschließen. Der nächtliche Angriff von mutmaßlich mehreren Leuten scheint sich auf diese Geschichte zu beziehen.

Nils Bakun wohnt nur ein paar Straßen von der Gaststätte entfernt. Er ist ausgebildeter Sozialarbeiter und versteht sich als Medienaktivist. Auf seinem Twitter-Account postete er hauptsächlich über seine ehrenamtliche Arbeit mit Geflüchteten, über Missstände zum Beispiel bei der Ausländerbehörde und über antirassistische Proteste. »Während der Pandemie, als man viel zu Hause sitzen musste und ich auch nur begrenzt meiner Arbeit nachgehen konnte, begann ich auch über Dinge im Kiez zu posten«, erzählt der Mittdreißiger. So auch am Tag nach dem Anschlag auf die Gaststätte. Am Vormittag, über acht Stunden nach der Tat, veröffentlicht Bakun auf seinem Twitter-Account ein Foto der beschädigten Gaststätte, aufgenommen bei Tageslicht. Ein ganz ähnliches Foto wird kurz darauf auch die Leipziger Volkszeitung in ihrer Berichterstattung verwenden. Zu dem Bild schreibt Bakun einen hämischen Kommentar – dass die »Kartoffelbude« am Kreuz »luftiger gemacht« wurde. Der Tweet, der auch in der LVZ zitiert wird, endet mit den Worten: »why not?!«. Darunter bedankt er sich für die Zusendung des Fotos. In den Kommentaren unter dem Post habe sich daraufhin eine Diskussion über die Aktion entwickelt, erzählt er: »Dann war das erst mal für mich gegessen und ich habe nicht weiter drüber nachgedacht.«

Mehrere Monate nach dem Vorfall, im Mai 2021, erreicht Bakun eine polizeiliche Vorladung als Zeuge. Er solle aussagen, woher er das Foto habe. In Absprache mit seinem Anwalt verweigert er die Aussage. Sie berufen sich auf den Quellenschutz, der nach Meinung des Anwaltes auch für Medienaktivisten gelte. Bakun hat aber noch einen weiteren Grund: »Ich arbeite als Sozialarbeiter viel mit vulnerablen Gruppen zusammen, ich gebe grundsätzlich nie Informationen heraus.« Der ermittelnde Staatsanwalt will das nicht gelten lassen. Im November 2021 wird Bakun vom Landgericht vorgeladen und erneut, diesmal unter Androhung eines Ordnungsgeldes, zur Aussage aufgefordert. »Der Staatsanwalt forderte hier 1.000 Euro. Das ist die höchste Summe, die ein Gericht verhängen kann, die also zum Beispiel auch in Fällen organisierter Kriminalität oder bei Tötungsdelikten angesetzt wird«, erzählt Rechtsanwalt Werner im Gespräch mit dem kreuzer. Der Ermittlungseifer des Staatsanwaltes macht ihn stutzig. Auch der Richter findet die Forderung des Staatsanwaltes offenbar übertrieben und verhängt stattdessen ein Ordnungsgeld von 200 Euro, sollte Bakun weiterhin die Zeugenaussage verweigern. Der entscheidet sich, trotzdem nicht auszusagen und Beschwerde gegen das Ordnungsgeld einzulegen: »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass da noch was kommt.« Doch da kam noch was.

Am frühen Morgen des 12. Januar 2023, also mittlerweile über zwei Jahre nach der Tat, kommt es in der Wohnung des vermeintlichen Zeugen zum Polizeieinsatz. »Plötzlich hörte ich im Treppenhaus Lärm und Unruhe«, erzählt Bakun. »Ich guckte aus dem Türfenster und sah überall vermummte Polizisten. Ich fragte, was denn los sei. Darauf wurde ich gefragt, wer ich sei. Als ich meinen Namen nannte, rief einer: ›Wir haben ihn!‹« – Die Einsatzkräfte dringen in die Wohnung ein und »sichern« sie. Im Anschluss beginnen sechs Beamte und Beamtinnen der Kriminalpolizei mit der Durchsuchung der Privaträume. Über sechs Stunden lang wühlen sie sich durch persönliche Gegenstände, Notizbücher, auch Fotoalben werden angeschaut, berichtet Bakun.

Die Wohnung ist gemäß Artikel 13 des Grundgesetzes unverletzlich. Eine Durchsuchung stellt nicht nur einen schwerwiegenden Eingriff in die Privatsphäre dar, sondern auch in die Grundrechte, weshalb es dafür einen richterlichen Beschluss braucht. Eine Hausdurchsuchung wegen der Veröffentlichung dieses Fotos aus der 
Nachbarschaft? Dies hätte wohl kein Richter unterschrieben. So war der Grund des Durchsuchungsbeschlusses auch ein anderer: »Plötzlich war mein Mandant kein Zeuge mehr, sondern Beschuldigter in einem Verfahren wegen Sachbeschädigung«, erklärt Rechtsanwalt Werner, dem die Verwunderung darüber noch immer anzumerken ist. Doch wie wurde aus dem Zeugen ein Beschuldigter? In den Unterlagen, die der kreuzer einsehen konnte, wird der Tatverdacht folgendermaßen begründet: Es gebe eine enge zeitliche Nähe der Veröffentlichung des Fotos zur Tatzeit sowie ein tendenzielles Befürworten der Tat durch den mitveröffentlichten Kommentar, was eine besondere Nähe zum Täterkreis wahrscheinlich erscheinen lasse. Zudem wird angedeutet, der Beschuldigte habe sich durch seine Aussageverweigerung als Zeuge selbst verdächtig gemacht. Auch ein mehrere Jahre alter polizeilicher Eintrag wird angeführt. Bakun erzählt, dass er damals nach einer Spontandemonstration in einen Polizeikessel geraten sei, ein Verfahren sei nie eröffnet worden. Rechtsanwalt Werner spricht von einem »abenteuerlichen Vorgang«.

Obwohl Bakun nun eine direkte Tatbeteiligung vorgeworfen wird, geht es bei der Hausdurchsuchung weiterhin nur um das von ihm veröffentlichte Foto. Wie aus dem Durchsuchungsbeschluss hervorgeht, diente der Polizeieinsatz ausschließlich der Sicherstellung von Computern, Handys und anderen Speichermedien sowie schriftlichen und elektronischen Notizen. »Das verwundert doch sehr bei dem Tathergang. Man würde ja davon ausgehen, dass erst mal nach der unbekannten Substanz gesucht wird, oder nach dem Sprühgerät, mit dem sie verteilt wurde, oder nach den Sprühdosen, oder nach Gegenständen, mit denen die Scheiben eingeschlagen wurden«, erklärt Bakuns Anwalt. Bei der Durchsuchung seien aber zum Beispiel Sprühdosen und die Werkzeugkiste nicht beachtet worden. So widerspricht das Vorgehen der Ermittler augenscheinlich dem von ihnen gemachten Vorwurf der direkten Tatbeteiligung. Auch Bakun ist verwundert: »Sie haben mich bis heute nie gefragt, wo ich zum Zeitpunkt der Tat war.« Für Rechtsanwalt Werner ist es offensichtlich, dass der Tatverdacht nur vorgeschoben ist. Er sieht die Staatsanwaltschaft Leipzig (die für eine Stellungnahme bis Redaktionsschluss nicht zu erreichen war, Anm. d. Red.) hier als schlechten Verlierer: »Sie haben gemerkt, dass sie bei meinem Mandanten als Zeugen nicht weiterkommen. So versuchen sie es mit ihm als Beschuldigtem«, so seine Vermutung.

Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit sowie nach dem eigentlichen Ziel der Hausdurchsuchung stellt sich umso mehr, als sie in dem Haus stattfand, in dem sich im Erdgeschoss das Linxxnet sowie das Abgeordnetenbüro von Juliane Nagel befinden. Also Räumlichkeiten, die aufgrund der parlamentarischen Immunität unter besonderem Schutz stehen. Durch die vermummten Bereitschaftspolizisten und -polizistinnen vor den Schaufenstern des Linxxnet entstanden am Morgen schnell Gerüchte in den sozialen Medien, dass die Razzia dem Stadtteilladen oder gar der Abgeordneten Nagel gelte. Auch die Bild, die – offensichtlich vorab informiert – von der ersten Minute des Polizeieinsatzes an dabei war, veröffentlichte noch vor Sonnenaufgang entsprechende Bilder. Da das LKA zeitgleich ein paar Straßen weiter eine Hausdurch­suchung durchführte, die laut Presseberichten im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen Lina E. stand, entstand zudem der Eindruck, beim Einsatz im Haus des Linxxnet gehe es ebenfalls um das Antifa-Ost-Verfahren. Dies brachte sowohl Bakun als auch den Stadtteilladen und damit Juliane Nagel persönlich in Verbindung mit der mutmaßlichen kriminellen Vereinigung. Bis heute steht im Online-Artikel der Bild, dass der Beschuldigte, also Bakun, dem Umfeld von Lina E. zugerechnet werde. Erst auf Nachfragen der Presse bestätigte am Nachmittag der Hausdurchsuchung der Sprecher der Leipziger Staatsanwaltschaft, Ricardo Schulz, dass es zwischen den beiden Verfahren und Durchsuchungen keinen Zusammenhang gebe.

Bakun hat noch heute mit der Erfahrung zu kämpfen: »Es war wie ein Überfall, oder Raub. Nur dass es keine Instanz gibt, an die ich mich wenden kann oder die mich davor beschützen kann. Weil: Diese Instanz war es ja selbst.« Bei der Hausdurchsuchung war auch der ermittelnde Staatsanwalt vor Ort – ein ungewöhnlicher Vorgang, der normalerweise nur bei besonders wichtigen Verfahren vorkommt. Und: Es war derselbe Staatsanwalt, der Bakun – damals noch als Zeuge – 1.000 Euro Zwangsgeld aufbrummen wollte. Und noch ungewöhnlicher: Er trug bei der Hausdurchsuchung durchgehend eine Sturmhaube. Das berichten Bakun, sein Anwalt und Juliane Nagel übereinstimmend, und es wurde mittlerweile auch behördlich bestätigt.

Für Rechtsanwalt Werner ist das ein Skandal im Skandal: »Eine Hausdurchsuchung ist ein massiver Eingriff in ein wichtiges Grundrecht. Die zusätzliche Qualität des Eingriffes ist hier, dass ein an sich neutraler Justiz-Angehöriger dabei vermummt auftritt. Das schadet dem Rechtsstaat erheblich.« Mittlerweile hat der Staatsanwalt eine gewisse Berühmtheit erlangt: Es ist derselbe Staatsanwalt, der sich am sogenannten Tag X Anfang Juni in Leipzig mit einer Sturmhaube vermummt am Rande der zu diesem Zeitpunkt bereits aufgelösten Demonstration aufhielt und dabei fotografiert wurde. Der Vorfall löste bundesweit Diskussionen aus.

Der Anwalt von Nils Bakun hat Beschwerde eingelegt, sowohl wegen der Hausdurchsuchung an sich als auch wegen der Vermummung des Staatsanwaltes. Das Leipziger Landgericht hat beide Beschwerden als unbegründet verworfen. Im Fall des vermummten Staatsanwaltes hat Rechtsanwalt Werner nun Verfassungsbeschwerde beim sächsischen Verfassungsgericht erhoben. Das sächsische Innenministerium hat zumindest schon auf eine kleine Anfrage der Linkspartei geantwortet und darin die Vermummung aus Eigenschutz gerechtfertigt: »In Anbetracht der (…) dem Beschuldigten zur Last gelegten, mutmaßlich politisch motivierten Straftat, durch die ein Gesamtschaden von etwa 50.000 bis 70.000 Euro verursacht worden sein soll, war daher (…) mit entsprechenden Reaktionen der politisch motivierten Szene zu rechnen.« Für Anwalt Werner ist diese Begründung inakzeptabel: »Ein Staatsanwalt ist ein Organ der Rechtspflege, ein Wächter des Gesetzes, und als solcher kann er Bürgerinnen und Bürgern nicht vermummt gegenübertreten.« Wie auch die Verfassungsbeschwerde ausgeht, die Erfahrung, dass das Interesse der Behörden, den Urheber des Fotos herauszufinden, mehr wert sei als seine Grundrechte, habe ihn nachhaltig erschüttert, sagt Bakun. Seinen Medienaktivismus hat er eingestellt.

 

08.08.2023, https://kreuzer-leipzig.de/2023/08/08/verdaechtig-gute-fotos